Führt jetzt die KMK die Volksschule wieder ein?

30.01.2023

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schulleiterinnen und Schulleiter,

eigentlich ist doch alles so einfach: Gut, dass wir die Expertise der KMK jetzt haben (darauf hätten wir doch selbst kommen können): Die Lösung der Probleme im Bildungsbereich ist: Die gute alte Volksschule – unsere Ahnen können ein Lied davon singen! 50 Kinder in einem Raum (notfalls gestapelt, falls die alten Rettig-Schulbänke nicht mehr in den Kellern zur Verfügung stehen oder vermodert sind); eine Lehrkraft, die noch mehr Stunden unterrichtet, am besten von montags sieben Uhr bis freitags 16 Uhr; Teilzeit wird gestrichen.
Der SLVN hält die von der KMK vorgelegten Vorschläge für wenig hilfreich und in Teilen für kontraproduktiv. Alte Rezepte, die vor 20 Jahren schon nicht funktioniert haben, werden wiederbelebt und die vorhandenen Lehrkräfte weiter verschlissen.
Unbestritten ist: Das Lehramt ist ein komplexer Beruf. Die Klassengrößen sind schon jetzt mit 30 Schüler:innen, die alle differenzierte Bildungsangebote einfordern, Herausforderung genug! Hinzu kommt die Größe der Räume. Hier quantitativ aufzustocken, wir an den meisten Schulen gar nicht möglich sein. Dann die Stundenanzahl: Bereits jetzt gehen Lehrkräfte, die ihren „Job“ gut machen wollen, auf dem Zahnfleisch; weil er nie aufhört: Unterrichtsvorbereitung und -nachbereitung, Differenzierungsangebote, inklusive und sprachsensible Angebote, Berufsorientierung, Betreuung digitaler Endgeräte, Korrekturen, Verwaltungszeit, Elterngespräche, Schulentwicklung – etc. Diese Überlastung durch Aufgaben, nicht durch die Berufung, löst schon jetzt Ängste gerade bei jüngeren Kolleg:innen aus, über die kaum jemand spricht. Es wird – unabhängig von dieser aktuellen Situation – endlich Zeit, sich diesem tabubesetzten Thema zu stellen.1 Aus unserer Perspektive ist das eine ganz zentrale aktuelle Aufgabe von Leitung! Schulleitung heißt immer auch, die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte und Mitarbeiter*innen zum Nutzen der Schüler*innen herzustellen. Die vorgelegten Vorschläge sind das Gegenteil dieses Anspruchs und darum wehren wir uns vehement dagegen.
Mehr Stunden zu geben, wird weder den Schüler:innen gerecht noch können Lehrkräfte das leisten. Und schließlich: Es zeugt von Unkenntnis in der Sache, den Teilzeitkräften ihren Anspruch nehmen zu wollen. Teilzeitlehrkräfte sind vor allem eines: ehrlich! Sie wissen, dass sie aus guten Gründen der Schule nicht vollständig zur Verfügung stehen können und verzichten dafür auf Gehalt und auch auf Pension. Hier Möglichkeiten zu reduzieren, wird nicht dazu beitragen, mehr Menschen für das Lehramt zu gewinnen; im Gegenteil.
Damit nicht genug. Besonders die Lehramtsabsolvent:innen der naturwissenschaftlichen Fächer (und Informatik) werden von der Wirtschaft abgefischt. Dort weiß man, was den jungen Absolvent:innen wichtig ist und macht ihnen entsprechende Angebote.
Richtig ist: Der Bildungsbereich erlebt eine heftige Krise. Wir müssen uns dem Fachkräftemangel in Bildung schon stellen – Aber nicht mit Konzepten aus dem letzten Jahrhundert: Wir brauchen mehr echte Multiprofessionalität in Schulen, eine sinnvolle und qualifizierte Begleitung von Quereinsteiger:innen, und mehr außerschulische Partner:innen im Ganztag. Wir müssen dringend die Lehrpläne entschlacken. Wir müssen fächerübergreifend und in Projekten lehren und lernen. Wir müssen endlich klären, was die Jugendlichen von heute wirklich brauchen. Wir brauchen eine Entbürokratisierung auf allen Ebenen, um Ressourcen freizusetzen! Und wir brauchen eine Umgestaltung der Lehrerausbildung hin zu einem dualen Studium, um die Ausbildung attraktiver, praxisorientierter und schneller zu gestalten.
Wir können die Eltern als Bildungspartner:innen mehr in die Schulen holen, mehr ins Schulleben einbeziehen – das gleiche gilt für Professionals außerhalb des Lehramtes.

Der SLVN ist ob dieser KMK-Vorschläge in großer Sorge. Uns ist klar, dass es für die Lösung der aktuellen Misere keine einfache und auch nicht die einzig wahre Lösung gibt. Uns ist aber auch klar, dass die Lösung der KMK kein einziges Problem langfristig lösen, sondern noch mehr Lehrkräfte in den vorzeitigen Ruhestand oder in andere Berufe treiben wird.

Die Kultusminister:innen sind gut beraten, sich die Lösungsvorschläge derer anzuhören, die jeden Tag vor Ort ihr Letztes geben, damit der Schulbetrieb aufrecht erhalten werden kann. Und sie sind gut beraten, den Schulleitungen die Freiräume zu geben, damit sie vor Ort individuelle und regionale Lösungen umsetzen können.
Der SLVN ist bereit, an einer wirklichen Lösung tatkräftig mitzuwirken.

Für den Vorstand des SLVN
Dr. René Mounajed | Stephan Lindhorst | Judith Brandes-Bock | Carsten Melchert | Gregor Ceylan | Sandra Heidrich | Jan Pössel | Katja Tank

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1 Zur wissenschaftlichen Fundierung siehe aktuell: PÄDAGOGIK, Heft 11/2022, Thema: „Ängste von Lehrer:innen“ (Beltz-Verlag).