Mandalas statt Mathe

Wie der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung Grundschulen überfordert und soziale Ungleichheit verschärft

Öffentliche Stellungnahme des SLVN e.V. und des LNGS e.V, vom 08.10.2025

Da die Rechtsgrundlage mit § 24 Abs. 4 des SGB VIII auf Bundesebene gegeben ist, kann
die Forderung des SLVN an die Schulträger nur in einer Einführung „in drei Geschwindigkeiten“ bestehen im Sinne eines Moratoriums für Schulen, die die Umsetzung erst zum
01.08.2027 oder zum 01.08.2028 anstreben. Eine Forderung ans Land besteht in der Ressourcenausstattung der Schulen und ihrer Leitungen.

Der SLVN bündelt die zahlreichen Hinweise von Mitgliedern in vierzehn Problemanzeigen:

1. Angesichts der Eingriffstiefe der Veränderungen bekommen die Leitungen von Grundschulen umfangreiche zusätzliche organisatorische und pädagogische Aufgaben, denen
keinerlei Entlastung an anderer Stelle gegenübersteht. Diese reichen von der Konzeptentwicklung über die Gremienbeschlüsse, die Zusammenarbeit mit dem Schulträger und
dem RLSB sowie möglichen Kooperationspartnern bis zur Finanzierung und Personalgewinnung und schließlich zur erweiterten persönlichen Präsenz in der Schule. Hier kann es nur eine Konsequenz geben: Die gleichzeitige Einführung von Stellvertretungen an allen Schulen mit maximal einem halben Deputat und eine entsprechende Entlastung der Schulleiterinnen und Schulleiter.

2. Die Schulträger beteiligen sich in sehr unterschiedlichem Maß an den entstehenden Kosten. Trotz Kofinanzierung des Landes sind viele Kommunen mit den Eigenanteilen objektiv überfordert. Während finanzstarke und engagierte Schulträger „Rundum-Sorglos-Pakete“ anbieten, stellen andere Schulträger etwas Kupfergeld in den Haushalt ein und fordern Konzepte, Beschlüsse und die gesamte Umsetzungsarbeit mit enger Fristsetzung von den Schulen ab. So entsteht kontraproduktiv soziale Ungleichheit zwischen Regionen ausgerechnet dort, wo der Ausgleich sozialer Ungleichheit beabsichtigt war.

3. Unabhängig von der unzulänglichen Ressourcenausstattung gelingt auch angemessen budgetierten Schulen die Gewinnung qualifizierten Personals weder in eigener Verantwortung noch über Kooperationspartner. Im Gegenteil: Zahlreiche Schulen berichten, dass Pädagogische Mitarbeitende mit Kündigung drohen für den Fall, dass sie zu den neuen Bedingungen arbeiten sollen (z. B. Betreuung in 30er-Gruppen am Freitagnachmittag bis 16:00 Uhr). Der Mindeststandard – Erzieherinnen oder Erzieher
nach TVL E8 – ist aus den Schulbudgets nicht finanzierbar. Befristete Verträge sind für diese Zielgruppe nicht attraktiv, unbefristete Verträge dagegen mit einem untragbaren Haushaltsrisiko verbunden. Und die besten und bewährten Kräfte, die uns in der sog. Ukraine-Krise unterstützt haben, dürfen wir nicht mehr
einstellen, weil sie bereits im Landesdienst beschäftigt waren.

4. Mit der 100.000-Euro-Grenze für Vergabeverfahren haben niedersächsische Schulen gerade etwas Luft zum Atmen z. B. im Bereich der Schulfahrten gewonnen. Diese wird ihnen sofort wieder genommen. Schon für eine zweizügige Grundschule, die bisher keinen Ganztag geführt hat, sind Kooperationsverträge notwendig, die die o.g. Grenze überschreiten können. Uns liegen Angebote von 300.000 Euro für einen Jahrgang einer dreizügigen Grundschule vor. Auch das günstigste Angebot liegt über 100.000 €. Wirksame und flächendeckende Unterstützung liefern weder die Schulträger noch das RLSB.

5. Qualitätsanspruch: Die seit vielen Jahren offensiv geführte Qualitätsdebatte für den Ganztag hat klare Ergebnisse. Nichts davon wird mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs umgesetzt. Im Gegenteil: Hier entsteht kein Bildungs- und Förderangebot, sondern eine auf Kante genähte Notbetreuung. Der Fachkräfte-Radar der Bertelsmann-Stiftung für KiTa und Grundschule 2023 hat in sieben Szenarien datenbasiert die Situation prognostiziert. Man hätte es wissen können… Bildungsnahe Elternhäuser werden diese Angebote meiden und andere werden sie wahrnehmen müssen.
Siehe oben: So verschärft man soziale Ungleichheit.

6. Die Finanzierung der Gesamtmaßnahme aus Bundes-, Landes- und Schulträgermitteln nach dem Schlüssel 70:15:15 bürdet den Kommunen Lasten auf, die nicht von allen zu schultern sind (vgl. www.nsgb.de). Vor allem aber ist die aufsteigende Einführung finanziell nicht abgesichert. Bis 2030 werden hier Kosten auflaufen, die erst die nächste Landesregierung zu schultern hätte. Hier wird nicht nur ein Bier bestellt, das niemand bezahlt, sondern eine ganze Brauerei gekauft. Oder lieber alkoholfrei: Die Rechnung stammt aus einer Molkerei.

7. Wir kritisieren, dass einige Schulträger mit gezinkten Karten spielen, indem sie so tun,
als hätten die Schulen das Problem. Klar muss sein: Entscheiden sich die Grundschulen eines Schulträgers gegen die Umwandlung in Ganztagsschulen, liegt die Verantwortung für die Umsetzung des GaFöG z.B. mit eigenen Horten oder freien Trägern bei den Jugendämtern der Kommunen. Wer den Ball nur deshalb an die Schulen abspielt und ihnen gleichzeitig droht, sie könnten sich ohnehin nicht wehren, verkennt,
dass im Konfliktfall zuletzt die RLSB entscheiden.

8. Die Schulbudgets können die neuen Aufgaben insbesondere dort nicht decken, wo
diese schon bisher unter Spannung stehen: Angesichts der Unterversorgung niedersächsischer Grundschulen gehen viele von uns schon jetzt jedes Jahr ins Minus, weil sie (rechtlich anthrazit) mit PM die Defizite auffangen. Gleichzeitig erhöht der Rechtsanspruch den Kapitalisierungsdruck: Was als kluge Idee der Eigenverantwortlichen Schule begonnen hat – die mögliche Umwandlung von Lehrkräftestunden in Budgetmittel – endet in einer Krise ohne Alternative und konterkariert die ursprüngliche Zielsetzung. Hier entsteht kein Freiraum, sondern Entprofessionalisierung.

9. Der ganztagsspezifische Zusatzbedarf an Lehrkräftestunden – berechnet auf der
Grundlage der Zahl angemeldeter Schüler:innen – wird seit dem Schuljahr 2014/15
mit dem Faktor 0,75 gewährt. Diese groteske Verwaltungspraxis ist weder durch den
Ganztagserlass noch durch den Zuweisungserlass („Klassenbildung und Lehrerstundenzuweisung“) gedeckt. In der Folge sind Ganztagsschulen in Niedersachsen seit einem Jahrzehnt um ein Viertel unterfinanziert, wenn sie nicht Bestandsschutz für die ältere 100 %-Zuweisung genießen. Wieder begegnet uns das Thema Ungleichheit – hier zwischen „alten“ und „neuen“ Ganztagsschulen. Unbeantwortet ist die Frage, woher das vierte Viertel der benötigten Ressource kommen soll. Mit Einführung des Rechtsanspruchs wird der Geltungsbereich des Problems auf das gesamte Land ausgerollt.

10. Der zeitliche Umfang des Betreuungsanspruchs von 5×8 Stunden sowie der Ferienzeiten (mit Ausnahme von 4 Wochen, durch die Kommunen zu gewährleisten) wirft die Rhythmisierungsmodelle vieler Schulen über den Haufen. Um die Ressourcen dafür aus dem System zu gewinnen, müssen bewährte und wirksame Angebote am Vormittag aufgegeben werden. Wer bisher am Vormittag ein Förderangebot gemacht hat, wird künftig am Nachmittag Mandalas ausmalen lassen.

11. Besonders im Fokus steht in den Rückmeldungen vieler Schulen der Freitagnachmittag. Bereits jetzt kündigen Pädagogische Mitarbeitende und Lehrkräfte an, dass sie hier nicht zur Verfügung stehen – und ihre Arbeitsverträge bzw. der Teilzeiterlass liefern ihnen dafür auch eine Rechtsgrundlage. Vielfach wird den Schulleiterinnen und Schulleitern niedersächsischer Grundschulen nur eine einzige Option bleiben: Das Betreuungsangebot am Freitagnachmittag persönlich anzubieten. Die Pointe: Manche Schulträger, die diese Aufgabe einfordern, beenden die Kernarbeitszeit ihres eigenen Personals freitags um 12:00 Uhr. Dafür sorgen deren Personalvertretungen über Dienstvereinbarungen. Schulleitungen haben keine eigene Personalvertretung.

12. Im Bereich der Räume und Infrastruktur bestehen ungeklärte Fragen bzgl. der Gruppenräume, Mensakapazitäten, Sanitäranlagen, Außenflächen sowie der Schülerbeförderung und der Arbeitszeiten von Schulhausmeistern und Schulverwaltungskräften. Fest steht: Die Schulleiterin oder der Schulleiter wird parallel zur Notbetreuung der Kinder an der Busaufsicht stehen, das Gebäude schließen und das Sekretariat bespielen.

13. Einmal mehr ist Inklusion nicht mitgedacht – dabei sollte das Mainstreaming dieses
Themas eine Selbstverständlichkeit sein: Wer kümmert sich im Ganztag um Kinder
mit Unterstützungsbedarfen z. B. im Bereich der körperlich-motorischen und emotional-sozialen Entwicklung? Wie werden die Arbeitszeiten von Schulbegleitungen angepasst? Wie sollen Schulen mit einer sonderpädagogischen Fachkräfteversorgung unter 50 % die ohnehin zu kurze Decke über den Ganztag ziehen?

14. Die Kommunikation mit Eltern und Erziehungsberechtigten gehört zu den wichtigsten
Aufgaben der Leitungen. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung werden hier einmal mehr die Karten neu verteilt. Wie beim Thema „Flexible Abholzeiten“ stehen Schulleitungen hinter dem Tresen: „Sie wünschen?“ Das bedient und verschärft Kundenmentalität und folgt einem Individualisierungsdruck, der immer weniger nach den Beiträgen Einzelner für die Gemeinschaft fragt. Manche Eltern wollen jetzt wissen, warum ihr Kind in Klasse 1 von der Betreuung profitieren darf, das
ältere Geschwisterkind aber nicht. Das eine wird flexibel abgeholt, das andere nicht?
Das ist auch schulorganisatorisch und für die Elternhäuser nicht zu Ende gedacht.

Wir fordern aus den o.g. Gründen

  1. von den Schulträgern eine Einführung in drei Geschwindigkeiten,
  2. die Etablierung von Stellvertretungen an allen Schulen mit maximal einem halben Deputat und eine entsprechende Entlastung der Schulleiterinnen und
    Schulleiter,
  3. zusätzliche Budgetmittel im Umfang der für den Ganztag erforderlichen Arbeitszeit von Erzieherinnen oder Erziehern,
  4. eine vollumfängliche Zuweisung von Lehrkräftestunden ohne 75 %-Faktorisierung,
  5. eine vollumfängliche Abbildung der Inklusionsaufgaben im Ganztag über sonderpädagogisches Fachpersonal und Erzieherinnen und Erzieher,
  6. einen zeitlichen Vorlauf zwischen dem Erscheinen eines Erlasses in der gültigen Fassung und seiner Umsetzung von einem Schuljahr,
  7. die Freistellung der Schulen von Vergabeverfahren für diesen Arbeitszusammenhang,
  8. landesweit einheitliche Standards für alle o.g. Schulträgeraufgaben,
  9. die sofortige Rücknahme der flexiblen Abholzeiten.

Das ist nicht finanzierbar? Das wissen wir. Aber wer bestellt, bezahlt.


Für den SLVN e.V.
Matthias Aschern
Gregor Ceylan
Jan Pössel
Katja Tank


Für den LNGS e.V.
Jörg Bratz
Marion Borderieux
Claudia Rudat
Petra Binder

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